Die schmale Sichel des Mondes hing knapp über den Dächern und leuchtete in Karls Kinderzimmer hinein. Sein Bett stand nah am Fenster. Er blickte durch die Fenstersprossen und die leeren Baumzweige hindurch zum Himmelszelt. Der Mond senkte sich und die Sterne zeigten ihr Funkeln. In der Straße wurden einige der letzten Gaslaternen der Stadt entzündet.
Karl hörte das Herabdrücken einer Türklinke. Er blickte zur Tür und sah, wie das Licht im Türspalt erlosch. Die Eltern zogen sich in das nebenan liegende Schlafzimmer zurück und die Wohnung verfiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf.
Karl wälzte sich in seinem Bett hin und her und fand keine geeignete Schlafposition. Wie hätte er auch nur schlafen können? Morgen ist der Heilige Abend – endlich! Seit Wochen erwartete er ihn sehnsüchtig. Seine Gedanken kreisten um seine Wünsche und die Geschenke, die er sich erhoffte. Ob er dieses Jahr endlich den ferngesteuerten Truck bekäme? Er malte sich aus, wie er ihn noch am Nachmittag ausprobieren wolle, draußen auf dem Sportplatz. Wenn es dann schon dunkel wäre, würde er die Scheinwerfer und die Beleuchtung einschalten. Mit Vollgas könnte er Runde um Runde auf der Tartanbahn drehen und die Vögel, die ihm in die Quere kämen, würde er mit dem mächtigen Signalhorn verscheuchen. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht.

Ohrenbetäubender Lärm war von der Straße zu hören. Es klang wie ein großer, schwerer Lieferwagen, der über das Kopfsteinpflaster bretterte. Doch wer konnte das nur sein, um diese späte Zeit? Es lagen doch schon alle in den Betten?
Karl schob die Bettdecke beiseite, schlüpfte in seine warmen Wollschuhe und stellte sich an das Fenster. Mit seinen acht Jahren war er gerade so groß, dass er seinen Kopf über das Fensterbrett bekam. Neugierig schob er sein Gesicht nach vorn und presste seine Nase an die Glasscheibe. Alles war wieder still. Der Wagen hatte vor seinem Haus gehalten. Es sah aus wie ein altes, zerbeultes Paketauto. Aber es war in rot. Sollte es jetzt noch jemanden geben, der Pakete ausliefert? Die Leute, für die diese bestimmt waren, schliefen doch tief und fest?
Die Tür des Autos wurde zugeknallt und ein dicker, weiß-bärtiger Mann in rotem langem Mantel erschien an der Heckklappe. Er zog einen rostigen Schlüsselbund aus der ausgebeulten Jackentasche. Er murrte und brummte bis er den richtigen gefunden hatte und öffnete die Ladefläche. Mit einem kräftigen Ruck zog er sich hoch und verschwand. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Karl wusste immer noch nicht, was dort auf der Straße geschah, aber er wusste, dass er jetzt nicht schlafen konnte. Er rieb sich die Augen und wischte seinen Atem von der Fensterscheibe. Nach einer langen Pause, in der nichts geschah, hörte Karl erneut Geräusche. Es klang wie ein tiefes Brummen und Karl glaubte, dass der Mann im Lieferwagen eingeschlafen sein musste. Enttäuscht wandte er sich ab und ging in sein Bett.

Doch dann? Dann wurde aus dem Brummen ein wildes Surren. Mit einem Satz war Karl zurück am Fenster und sah, dass der Wagen hin und her wankte, als schüttelte ihn jemand kräftig durch. Es klapperte und dröhnte, dass der Lieferwagen jeden Moment in seine Einzelteile zerfallen musste. Karl riss seinen Mund auf und drückte seine Nase noch fester gegen die Scheibe. Die Ladetüren sprangen sperrangelweit auf und hunderte, nein tausende, kleiner Drohnen entschwirrten in die Nacht in alle Himmelsrichtungen. Dabei waren kleine, die nur ein winziges, bunt verpacktes Päckchen tragen konnten, und solche, die riesige Pakete mit sich führten. Karls Augen glänzten und verfolgten das unglaubliche Schauspiel. Eine Drohne flog genau vor seinem Fenster entlang und es sah so aus, als drehte sie sich zu ihm und spähte in sein Zimmer hinein. Sie prüfte, ob sie den richtigen Empfänger gefunden hatte und ließ sich auf dem zur Wohnung gehörenden Balkon nieder.

Der alte Mann stieg aus seinem Wagen und klopfte seinen Mantel ab. Er sah zu den Sternen und nickte bedächtig. Er erblickte einen kleinen Jungen am Fenster, hob seine Hand, winkte ihm zu und rief: »Hohoho!« Dann setzte er sich hinters Steuer und rumpelte, genau wie er gekommen war, in die dunkle Nacht davon.

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Die Geschichte ist auch im Akustischen Weihnachtskalender zum 4. Advent am 20. Dezember 2015 erschienen.