Oktober 2007. Es sind erst wenige Wochen seit der Eröffnung des neuen, riesigen Einkaufszentrums ALEXA unweit des Alexanderplatzes vergangen. Am ersten Tag wurde das Haus so sehr von Schnäppchenjägern belagert und gestürmt, dass es gleich zu einem Sachschaden in Höhe von mehreren Zehntausend Euro kam. Schuld daran war ein Elektronik-Fachmarkt mit 8000 m² Fläche auf vier Etagen, der beispielsweise Drucker zu einem Preis von 30 Euro verschleuderte. Jedenfalls konnte man es dann eine Woche später, ohne erdrückt zu werden, wagen, das Gebäude zu betreten. Was soll ich sagen, es ist wie jedes andere Kaufhaus, zusammengewürfelt aus vielen kleinen und wenigen großen Geschäften. Aber genau jenes hat die Welt, oder sagen wir die Stadt, sicherlich gebraucht.

Lena Gorelik: Meine weißen Nächte

Mein Rundgang durch die verschiedenen Etagen fiel verdammt spärlich aus, obwohl ich auch nicht die Absicht hatte, irgendetwas zu kaufen. Immerhin wurde ich doch noch in einer Buchhandlung fündig. Riesige Kisten randgefüllt mit Mängelware an Büchern. Und ein einziges zu einem unschlagbaren Preis von 1,50 Euro (wenn sich die Anfahrt damit nicht schon gelohnt hatte) fiel mir nach ausgiebiger Suche in die Hände.

Der Umschlag mit einer bunten Reihe von Matroschkas am Rand und anderen Zeichnungen fiel mir auf. Und kam mir bekannt vor, als hätte ich dieses Buch schon einmal anderswo in der Hand gehabt: »Meine weißen Nächte«. Als Taschenbuchausgabe. Und als ich den Text auf der Rückseite las, war mir klar: das ist meins.

Lena Gorelik beschreibt in Episoden die Auswanderung ihrer Familie von St. Petersburg nach Deutschland. Immer wieder erfolgen Zeitsprünge vor und zurück und bringen dem Leser schrittweise das Erlebte und die Beweg- und Hintergründe der Familie nahe. Den roten Faden durch das Buch bildet die Beziehung zu ihrem Freund Jan, die aber auf eine harte Probe gestellt wird, als der russische Ex-Freund Ilja auftaucht. Gorelik schildert ihre Erzählungen mit einfacher Sprache, aber so glaubwürdig, dass es mir echte Freude bereitet hat. Ein kurzweiliger, unterhaltsamer Roman.

Michail Jelisarow: Die Nägel

Das obige Buch, die russische Geschichte, gefiel mir so sehr, dass ich mehr von solchen lesen wollte. Ich wußte auch noch, dass ich daheim einiges im Schrank haben müsste und fand von Michail Jelisarow: »Die Nägel«.

Die Geschichte spielt irgendwo in Russland und schildert den Werdegang zweier Jungen, die jeder auf seine Art gehandicapt sind. Beide wurden von ihren Eltern verstoßen und landen als Baby in einem Heim für Behinderte. Einem sitzt ein unbschreiblich häßlicher Buckel auf dem Rücken, weshalb er auf den Namen „Gloster“ getauft wird. Der andere hat einen Stempel in der Windel, auf dem „Bachatow“ steht und der zu seinem Namen wird. Die Jungen freunden sich an und werden wie Brüder. Mit den Jahren entdeckt Gloster eine Regung an seinem Körper, eine Zuneigung zu Mädchen seines Alters. Er verliebt sich in Nastenka und schläft mit ihr, als er eine sich ihm bietende Möglichkeit schamlos ausnutzt. Nastenka wird schwanger, wird zum Abtreiben gezwungen und stirbt dabei. Aber Gloster liebt sie weiterhin.
Bald darauf soll das Heim geschlossen werden. Die beiden müssen sich einer Prüfung unterziehen, mit der ihr Grad der Behinderung festgestellt werden soll. Aber abgesehen vom zwanghaften Nägelkauen Bachatows und dem Buckel Glosters gab es niemals psychische Erkrankungen bei ihnen. Um aber weiterhin Unterstützungsgeld vom Staat zu bekommen, hecken sie einen Plan aus. Gloster soll als gesund entlassen werden, um sich seiner im Heim entdeckten Vorliebe für Musik, dem Spielen eines Klaviers, widmen zu können. Bachatow hingegen mimt absichtlich den Dummen, um weiterhin die Rente zu kassieren. Der Plan geht auf. Wegen der Schließung des Heims werden sie in die Stadt in ein Wohnheim geschickt, bei dem sie sich melden sollen.

Wie die Geschichte weitergeht, soll der interessierte Leser selbst heraus finden. Es spiegelt jedenfalls ein Stück die Zustände im alten Russland wider. Gewalt. Kriminalität. Abscheu gegenüber Behinderten. Diskriminierung. Gepackt in eine geheimnisvolle Erzählung mit mystischen Elementen. Unbedingt lesenswert.

Fjodor Dostojewski: Weiße Nächte

Das dritte Buch im Bunde ist mir dann kürzlich in einer Buchhandlung förmlich ins Auge gesprungen. Ich war nicht auf der Suche nach etwas bestimmtem, studierte die Regale, ein Fach nach dem anderen, bis der Titel »Weiße Nächte« aus der bunten Menge hervorstach. Fjodor Dostojewski ist der Autor des Buches. Und ich kann zumindest behaupten, zu wissen, dass er ein russischer Schriftsteller ist, wenn ich auch bisher nie etwas von ihm gelesen habe. Ich greife nach dem Buch und lese dessen Buchrücken. Plötzlich taucht der Name Nastenka auf und ich weiß: das ist mein Buch!

Das zuerst genannte Buch »Meine weißen Nächte« spielt natürlich auf Dostojewskis Klassiker »Weiße Nächte« an, manchmal auch als »Helle Nächte« bezeichnet, je nach Übersetzung des Originaltitels. Dostejewskis Erzählung spielt nämlich in St. Petersburg, eine Liebesgeschichte, ein empfindsamer Roman in vier Nächten und dem abschließenden Morgen. Der Ich-Erzähler verliebt sich in der ersten Nacht unsterblich in ein 17-jähriges Mädchen namens Nastenka. Er ist ein wahrlicher Träumer und sieht sich dazu berufen, dem Mädchen mit Rat beiseite zu stehen, da sie, wie sich bald herausstellt, von schrecklichem Liebeskummer geplagt wird. Nacht für Nacht treffen sie sich wieder, wandeln durch die Straßen, sitzen auf einer Bank, halten einander Händchen und steigern sich endlos in ihre Gefühle hinein.

Das Buch ist so unglaublich gut geschrieben, dass ich dieses Gefühl, das Zittern vor Liebe, tatsächlich spüren konnte. Hoffnung keimt auf und das Ende kommt so, wie es kommen muss. Beim Lesen lässt sich, zumindest wenn man Träumereien und Phantasien glauben schenken und leben kann, eine Leichtigkeit und Glückseligkeit, gepaart mit der Härte der Realität, erfahren, wie es bisher kein anderes Buch, das ich kenne, geschafft hat. Fjodor Dostojewskis »Weiße Nächte« ist zu meinem Lieblingsroman geworden.