Ist der berühmte erste Satz ein Mythos? Oder warum wird ihm so viel Bedeutung beigemessen? Der erste Satz ist doch einfach nur ein Satz, der eine Geschichte von mehreren tausend Sätzen einleitet. Und diese Geschichte muss den Leser mitreißen. Manch ein Autor versteht es, schon mit dem ersten Satz, oder sagen wir besser den ersten zehn Seiten, den Leser zu packen, so dass dieser das Buch nicht mehr beiseite legen kann. Stellt man sich den Roman als ein Bewerbungsschreiben für einen Job vor, so enspräche der erste Satz gerade mal der Anrede. Diese sollte in einer Bewerbung natürlich fehlerfrei und ansprechend sein, ist aber weder ein Garant für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch noch für eine erfolgreiche Anstellung.
Teilnehmer: 1 Kursleiterin, 16 Frauen, 2 Herren
Schreibübung 1 (15 Minuten):
Suche dir ein beliebiges Buch, das du noch nicht gelesen hast, und notiere dir den ersten Satz (oder Absatz). Spinne diesen Satz fort und mach den Leser neugierig auf deine Geschichte!
Variante: Nimm den gleichen ersten Satz und schreibe einmal einen Krimi und einmal eine Liebesgeschichte.
Das graue Licht machte alles flach und leblos. Die Morgendämmerung stand still.
– Martin Suter, Allmen und die Libellen
Das graue Licht machte alles flach und leblos. Die Morgendämmerung stand still. Viktor wälzte sich auf dem harten Holzboden hin und her. Die Bohlen knarzten. Er starrte auf das Nest, das die Schwalben mit Gras und Lehm an die Decke geklebt hatten. Der schwache Schein des Morgens hatte die Kinderstube zum Leben erweckt. Ein leises Fiepen war zu hören.
Viktor war zu müde, um aufzustehen. Und er war zu wach, um schlafen zu können. Die Lider fielen ihm zu und standen im nächsten Augenblick offen. Eine Schwalbe lugte aus dem Nest und flog mit schnellem Flügelschlag durch die Luke des Beobachtungsturmes.
Drei Teilnehmer wählten diesen ersten Satz und bei allen entstanden sehr lyrische und naturverbundene Texte. Das Original von Martin Suter ist dagegen der erste Teil einer Krimi-Serie.
Der berühmte erste Satz löst Assoziationen aus. Er muss aber nicht spektakulär sein. Die Geschichte muss sich entfalten können wie eine Blume aus ihrem Samenkorn. Entscheidender als der erste Satz sind damit die ersten Seiten, die einen Spannungsbogen aufbauen müssen, um den Leser auf das Buch neugierig zu machen.